Praktisch gleichzeitig Schwester und Tante werden - auf Sozialbesuch in Pomasqui

Julian Fritzsche
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Die Sozialarbeiterinnen der Stiftung Sembrar Esperanza besuchen jährlich alle Patenfamilien bei sich zu Hause. Diese Besuche sind nicht nur ein notwendiger Bestandteil des Patenschaftsverhältnisses mit der Stiftung, sondern auch eine Gelegenheit für die Sozialarbeiterinnen, die Lebensrealität der Familien besser kennenzulernen und die Wirkung der Unterstützung zu beurteilen. Während der Hausbesuche erfolgt ein intensiver Austausch mit den Familien – die Sozialarbeiterinnen hören ihre Geschichten und erfahren von ihren Herausforderungen und Erfolgen. Zudem wird das Vertrauen und die Bindung zwischen den Patenfamilien und der Stiftung gestärkt, und es werden wichtige Erkenntnisse zur Weiterentwicklung der Projekte gewonnen. Der Austausch trägt auch dazu bei, auf andere Projekte der Stiftung wie den Mikrokredit aufmerksam zu machen.

Ich durfte mehrfach Silvana Pallo, die Assistentin der sozialen Projekte, bei ihren Besuchen begleiten. Jeder Hausbesuch ist individuell, emotional, sowohl freudig als auch bekümmernd. Es werden nicht nur buchhalterisch Einnahmen, Ausgaben, Gesundheit und die momentane Lebenssituation erfasst, sondern Silvana nimmt sich auch menschlich ausgiebig Zeit, um jeder Patenfamilie persönlich zuzuhören und auf ihre Probleme und Sorgen einzugehen. Von schweren Schicksalsschlägen bis hin zu freudigen Ereignissen wie der Geburt eines Kindes taucht man tief in das Leben der Familien ein. Für viele ist es offensichtlich ein Segen, dass sich jemand Zeit nimmt, um ihnen ein offenes Ohr zu schenken und Empathie entgegenzubringen, auch wenn ihre Hürden teils unüberwindbar scheinen. Dabei ist es normal, dass die Hausbesuche manchmal länger als geplant dauern. Dank grosszügiger Spenden der Grossbäckerei Cyrano können zu den Hausbesuchen meist Kuchen und Süssgebäcke mitgebracht werden, was bei den Kindern besonders strahlende Augen hervorruft. So erleben sie gelegentlich einen Luxus, den sich ihre Familien im Alltag nicht leisten können.

Im Folgenden möchte ich zwei besuchte Patenkinder und ihre Geschichten vorstellen, die mich besonders beeindruckt haben.

Belinda

Belinda

Belinda und ihre Familie durchleben aktuell sehr schwierige Zeiten. Sie wohnen im Haus ihrer Grossmutter mütterlicherseits, Josefina, die momentan mit ihrer Rente die Hauptverdienerin ist. Doch Josefina muss mittlerweile regelmässig einen Neurologen aufsuchen, da sie zunehmend vergesslich wird. Belindas Bruder Michael hat seine Arbeit verloren und kann deshalb nicht mehr zum Lebensunterhalt der Familie beitragen.

Belinda, das Patenkind, brachte vor Kurzem per Notkaiserschnitt ihren zwei Monate alten Sohn zur Welt, da sich das Baby mit der Nabelschnur verheddert hatte. Der Junge musste aufgrund von Atemschwierigkeiten nach der Geburt vier Stunden lang Sauerstoff zugeführt erhalten, und eine Lungenuntersuchung steht bevor. Belinda leidet zudem unter Gastritis, kann jedoch keine Medikamente einnehmen, da sie stillt. Sie befindet sich im letzten Jahr ihrer Hochschulausbildung und kämpft trotz einer Lernschwäche dank der Unterstützung ihrer Patin weiter um ihren Abschluss.

Die Familie musste ausserdem einen schweren Schicksalsschlag verkraften: Bei einem Autounfall kam Belindas Cousin ums Leben. Josefina, die uns diese traurige Geschichte mit Tränen in den Augen erzählt, ist bereits 77 Jahre alt. Sie leidet nach dem Verlust ihres Enkels an Depressionen und lebt in ständiger Angst vor ihrem eigenen Tod.

Alexandra, Belindas Mutter, muss sich demnächst einer Operation zur Entfernung eines Myoms in der Gebärmutter unterziehen. Zwar haben sich ihre Schilddrüsenprobleme nach fünf Jahren etwas verbessert, sodass sie keine Medikamente mehr benötigt; dennoch bleibt die finanzielle Situation der Familie schwierig. Ihr Gemüsegeschäft musste Alexandra schliessen, weil sie mit den steigenden Kosten und der Konkurrenz der grossen Supermärkte nicht mithalten konnte.

Trotz steigender Lebensmittelkosten, erhöhter Kriminalität und der vielen Rückschläge zeigt die Familie weiterhin eine beeindruckende Stärke und einen unerschütterlichen Willen, weiterzukämpfen.

Quiana

Schwester

Das Patenkind Quiana ist in einer besonderen Situation: Sie hat eine Schwester bekommen und wurde fast gleichzeitig Tante, da ihre 17-jährige Schwester Milagros kurz darauf ebenfalls ein Kind zur Welt brachte.

Die Familie steht damit vor grossen Herausforderungen und ist in einer finanziell schwierigen Situation: Der Vater von Quiana und Milagros sitzt zurzeit im Gefängnis, weil er ihre Mutter Blanca unter Alkohol- und Drogeneinfluss angegriffen hat. Der Vater von Milagros’ Kind ist in eine andere Stadt gezogen, um zu arbeiten. Obwohl er Unterstützung versprochen hatte, bleibt diese aus. So musste Milagros ihre Ausbildung aufgeben, um sich um ihr Neugeborenes zu kümmern.

Blanca kann aufgrund des eigenen Babys aktuell nicht arbeiten und somit auch ihre Tochter nicht unterstützen. Sie hofft, in wenigen Monaten ihr kleines Kind in der Obhut von Milagros lassen zu können, um sich dann Arbeit zu suchen.

Trotz schwieriger finanzieller Umstände und Milagros’ Verzicht auf eine weiterführende Ausbildung blicken die Frauen voller Zuversicht in die Zukunft. Sie lachen herzlich mit uns und richten ihren Fokus auf die schönen Seiten des Lebens – die beiden neuen Familienmitglieder, die ihnen Freude und Hoffnung schenken.